Raum für Neues

ABBILDUNG: Feigen aus dem Garten, Cristina Suanzes

ABBILDUNG: Feigen aus dem Garten, Cristina Suanzes

«Zwei grundlegende Instinkte sind uns Menschen eingeprägt: der Wille zum Leben und das Verlangen, sein zu können was wir wesentlich sind.» (Katharina Shepherd-Kobel)

Es gibt Sätze, die einen nicht in Ruhe lassen. Dabei müssen diese Sätze nicht einmal etwas Spektakuläres sein oder von einer bekannten Person kommen. Es reicht einfach, wenn ihr Inhalt einen anspricht.
Es ist eine Weile her, dass ich den oben zitierten Satz gelesen habe. Seither habe ich einiges in meiner Umgebung verändert.

Vor einem Jahr haben mein Mann und ich uns entschieden, unsere Wohnung zu renovieren. Nachdem unsere zweite Tochter ausgezogen war, starten wir mit dem Projekt.
Wir wappneten uns mit viel Geduld und begannen mit der Auffrischung der Wohnung.
Etwa alle zwei Monate liessen wir ein Zimmer machen, was jeweils bedeutete: „Alles muss raus“.

Was vier Personen während 25 Jahre ansammeln können, ist erschreckend und erstaunlich.

Wir sind keinen professionellen Sammler. Wir bewahren nur Dinge auf, die vielleicht in x Jahren wieder gebraucht werden. Wir haben auch Sachen, die uns an etwas Schönes erinnern. Andere Dinge waren damals so teuer, dass wir sie auf keinen Fall weggeben wollten.

„Das werde ich einmal lesen“. „Beim nächsten Anlass ziehen dieses Kleid an“. „Mit diesen Stoffresten mache ich Putzlumpen“. „Das könnte ich für meine Arbeit brauchen“. „Oh, die Zeichnungen als die Mädchen klein waren“. „Vielleicht wenn es einmal Enkelkinder gibt“..... Wer kennt diesen Teufelskreis nicht?

Schritt für Schritt haben wir unsere Wohnung geleert.
Was am Anfang nur um die Wohnung ging, erweiterte sich mit der Zeit auf andere Ebenen. Und so tauchte eine Frage auf, die vieles auf dem Kopf stellen kann: Was passiert, wenn Sachen verschwinden, die mich an frühere Zeiten erinnern? Wo bleibt dann meine Identität?

„.... sein zu können was wir wesentlich sind“.

Vielleicht ist es nicht so schlimm, unsere Wohnung auf die Hälfte zu reduzieren, dachte ich. Das Materielle gibt eigentlich nur Arbeit. Man muss die Sachen pflegen und vor allem erheischen sie ab und zu Aufmerksamkeit, man muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

In weiteren Kapiteln ihres Buches erklärt Frau Shepherd-Kobel, was wir wesentlich sind:

«Wir stärken das Keimende und schaffen ihm Raum, damit wir es erkennen können und es sich entfalten kann. So zeigt sich unsere eigene Sprache immer deutlicher.»

Beim regelmässigen Entsorgen, Verschenken oder Verkaufen bekam ich das Gefühl auch in meinem Kopf mehr Raum zu haben.
Mehr Freiheit im Kopf zuzulassen ist sicher eine persönliche Einstellung und hängt deswegen vom Charakter ab. Wenn aber der Kopf sich weigert mitzumachen, kann es helfen in unserer Umgebung Raum zu schaffen.

Vielleicht stimmt es: Alte Dinge loswerden ist der Anfang, damit sich Keimendes entfalten kann.

– von Cristina Suanzes

Gerda Imhof