Yoga und Spiritualität

Kann durch das Praktizieren von Yoga-Übungen ein spiritueller Fortschritt erzielt werden?

Im ursprünglichen Sinn definiert sich Yoga als eine Praxis, die alle Arten und philosophischen Ansichten einschliesst, die sich auf das Verhältnis des einzelnen Menschen zum Göttlichen oder zu einem Transzendenten beziehen. Dieses wird in der Terminologie des Yoga zumeist als Selbst oder als Höheres Selbst benannt. In unseren Breitengraden wird Yoga jedoch vielfach losgelöst von diesem Ursprungsgedanken als sportlich-gymnastische Disziplin praktiziert. Die meistgenannten Motive der Teilnehmer dürften wohl das Bedürfnis nach besserer Beweglichkeit und Entspannung sein. Nicht viele Yoga-Praktizierende interessieren sich für das Studium der religiösen Hintergründe des Yoga, wie sie beispielsweise in den Schriften der Bhagavad Gita niedergelegt sind. Sind spirituelle Fortschritte innerhalb der Yoga-Praxis auf der Basis von Körperübungen möglich? Und was bedeutet überhaupt genau der Begriff Spiritualität?

Der Begriff Spiritualität hat seinen Ursprung im mittellateinischen spiritualitas. Das Adjektiv spiritalis bedeutet „zur Luft gehörig“, „zum Atem gehörig“, „geistig“. 1
Das Wort „atmen“ hat eine Beziehung zu dem Begriff „atman“ aus der indischen Philosophie, was soviel bedeutet wie das Selbst, die unzerstörbare ewige Essenz des Geistes im Menschen. 2

Über die Atmung ist jeder Mensch in den Luftraum eingebunden und sowohl mit den Mitmenschen, als auch mit der ganzen Schöpfung verbunden. So gesehen ist grundsätzlich einmal jeder Mensch spirituell. Diese naturgegebene Verbindung über die Atmung reicht aber noch nicht aus, um ein wirkliches In-Beziehung-Sein oder eine beziehungsvolle Verbundenheit auch zu erleben. Dies ist dann davon abhängig, wie der Einzelne seine vielfältigen Beziehungen, sei es zu den verschiedenen Mitmenschen in seinem Umfeld, seinem Beruf, der Natur, der Nahrung, zu Gott etc. bewusst gestaltet. Welche Werte legt er diesen zugrunde? Wie ist die Wahrnehmung nach aussen? Ist sie von der eigenen Innensicht geprägt oder beginnt sie in einem freien Nach-aussen-schauen? Verharrt der Mensch mehr in seiner Subjektivität oder öffnet er sich sensibel für den ihn umgebenden Raum? Erlebt er sich in der Begegnung mit der Aussenwelt mehr in Emotionen oder in feineren, freieren Gefühlen?

Das Praktizieren von Yoga-Übungen auf rein technische Weise kann zu einer Energetisierung der Körperenergien führen. Einen spirituellen Fortschritt sehe ich darin aber noch nicht, denn die Wirkung des Übens bleibt noch ganz auf der Körperebene. Ein Inhalt, den man sich für die Übungsreihe setzt, beteiligt das eigene Bewusstsein – gemeint ist das Denken, das Fühlen und der Wille - aktiv an der Übungspraxis. Der Übende bleibt durch einen geeigneten Inhalt in einer wachen Beobachtung gegenüber seines Körpers. Er entwickelt feinere Gefühle, wie im nachfolgenden Beispiel etwa für die unterschiedlichen Regionen seiner Brustwirbelsäule. Dadurch erweitert er sein Bewusstsein und entwickelt einen spirituellen Fortschritt.

Am Beispiel des Halbmondes – anjaneyasana – kann das differenzierte Erleben der Spannungsverhältnisse im Körper zum Inhalt genommen werden. Die Spannung soll gezielt in den Abschnitten der Brustwirbelsäule aufgebaut werden während andere Körperbereiche bewusst entspannt bleiben.

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Der Unterkörper sinkt so weit wie möglich mit der Hüfte zum Boden hin ein. Obwohl dieses Einsinken von Spannungen in den Beinen und Widerständigkeiten in der Hüfte begleitet ist, soll die Bewegung weich und geschmeidig erfolgen.
Der Oberkörper wird hingegen vollkommen frei von Spannungen gehalten, die Schultern werden bewusst zurückgenommen und die Brustwirbelsäule leicht angehoben.

 

In einer luftigen leichten Bewegung werden die Arme über den Kopf geführt und der Übende verbleibt zunächst einmal in einer ruhigen Beobachtung gegenüber dem Körper. Mit der Armbewegung geht eine erste leichte Ausdehnung der Brustwirbelsäule einher. Deutlich unterscheiden sich mit dem nach unten eingesunkenen Beinbereich und dem nach oben aufsteigenden Oberkörper zwei gegensätzliche Bewegungsrichtungen. Dies kann bewusst empfunden werden.

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Nun erfolgt ein gezielt angesetzter Spannungsaufbau aus dem unteren Brustkorb im Bereich des Sonnengeflechts, der sich in die Brustwirbelsäule nach oben fortsetzt und diese in eine Rückbeuge führt. Es kann noch einmal eine Dynamik aus der oberen Brustwirbelsäule zwischen den Schulterblättern aktiviert werden, die sich in die Arme hinein fortsetzt. Die Schultern und der Hals-Nacken-Kopfbereich bleiben während der gesamten Ausführung entspannt.

Rückwirkend entstehen ein feines freudiges Gefühl und eine angenehme Leichtigkeit im Denken, die über die Schwere des Körpers hinausführen. Der Körper wird als differenziert, leicht und lichter erlebt. Der Übende erweitert mit dem Inhalt des differenzierten Spannungsaufbaus sein Bewusstsein gegenüber seinem Körper und entwickelt einen spirituellen Fortschritt.

Das Praktizieren von Yoga-Übungen mit Inhalten kann auch in leichteren Übungen erlernt werden. Ein guter Einstieg ist der Workshop am 9. Oktober 2021 zum Aufbau von Spannkraft in der Wirbelsäule.

Irene


1 Quelle: wortbedeutung.info
2 Die Anwesenheit des Geistes im einzelnen Individuum wurde dem Menschen im Konzil von Konstantinopel im Jahre 869/870 n.Chr. abgesprochen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, der seither die Entwicklung einer individuellen Spiritualität im Sinne der Verbindung des Menschen zu Gott bzw. seinem Höheren Selbst auf schwerwiegende Weise beeinflusst.

Piera Bachmann